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Deutsche Heuchelei

In den letzten Monaten wurde das Thema Sterbehilfe wieder mal heiss diskutiert in Deutschland, vor allem von Theoretikern und dem einen oder anderen, der unbedingt Publicity brauchte. Der Gipfel war dann das geplante Gesetz zu Patientenverfügungen, das von einigen, die die Materie aus der Praxis gut kennen, als Patientenverfügungsverhinderungsgesetz (sog. Vorschlag Bosbach, eine gute Übersicht findet sich hier) tituliert wurde. Auf welch fundierten Überlegungen dieser Vorschlag einer Gruppe Bundestagsabgeordneter mehrerer Frktionen gründete, zeigt die Idee zwischen „heilbaren“ und „unheilbaren“ Krankheitszuständen zu unterscheiden. Bei letzteren wären Patientenverfügungen für die behandelnden Ärzte bindend, bei ersterem nicht.

Wo bitte verläuft in der Realität die Grenze zwischen „heilbar“ und „unheilbar“? Jeder, der regelmässig mit sterbenden Menschen zu tun hat, weiss, dass es diese Grenze nur auf dem Papier und vielleicht noch in vorklinischen Studentenseminaren gibt. Man fragt sich, wie man sich mit soviel sachlichem Unverstand an so ein komplexes Thema wagen kann. Und man ahnt, dass dies wohl bei anderen Themen, die man nicht so gut aus der Realität kennt, ähnlich läuft. Erschreckend.

Dann war da noch die Diskussion über den unglücklichen Ex-Senator Kusch. Dazu, wie auch zur peinlichen Bundestagsinitiative ein paar grundsätzliche Anmerkungen (war ursprünglich mal ein Kommentar im Blog von Hypnosekröte):

1. Man mag das gut oder schlecht finden, aber im Rechtssystem der meisten EU-Staaten ist die Freiheit des Individuums, solange sie anderen nicht schadet, unantastbar. Das heisst letztlich auch, dass es keine gesellschaftliche Entscheidung ist, ob sich jemand von Herrn Kusch über den Styx rudern lässt, sondern eine individuelle.

2. Formal ist Beihilfe zum Suizid in D nicht strafbar. In der Praxis sieht sich derjenige, der dies tut, aber schnell einer Menge scharfer juristischer Klingen gegenüber. Da ist z.B. die unterlassene Hilfeleistung etc. Wer will schon jahrelange Korrespondenzen mit Äztekammer und Staatsanwaltschaft. Es ist also verständlich, dass sich viele dem nicht aussetzen wollen und sich ein gewisser „Sterbetourismus“ in Richtung Schweiz entwickelt hat.

3. In der Schweiz nimmt man das unter 1. gesagte ernster als in D. Drum ist der assistierte Suizid hier auch real eine Sache des Individuums. Reingeredet wird nur wenn unlautere Motive, des Assistierenden vorliegen. In der Praxis bedeutet dies, dass sowohl der Patient mit Sterbewunsch als auch der Assistierende in der Regel nicht behelligt werden, während man in Deutschland sofort versucht den juristischen Fuss in die Tür zu bekommen, sobald ein solcher Fall öffentlich wird.

4. Auch wenn die Medien etwas anderes vermitteln, es gibt in der Schweiz kein Problem „Sterbetourismus“. Im Verhältnis zu allen Todesfällen pro Jahr in der Schweiz, sind die, bei denen assistierter Suizid vorliegt, marginal. Es sind weniger als ein halbes Prozent (vgl. EURELD-Studie).

5. Trotzdem ist der Sterbehilfe-Tourismus für ein Land wie D unentschuldbar. Wie kann es sein, dass Menschen, die ihr Freiheitsrecht in Anspruch nehmen wollen, dafür ins Ausland gehen müssen?

6. Wer weiss schon, ob die Motive von Herrn Kusch und anderen wirklich ehrenwert sind. Aber in der Sache ist es etwas zwischen ihnen und denen, die meinen, ihre Hilfe zu brauchen. Da haben wir uns, und erst recht der Staat, herauszuhalten.

7. Vermutlich würden einige von den Betroffenen einen anderen Weg gehen, wenn diesbezüglich ein offenes Klima in D herrschte, und wenn eine adäquate palliative Medizin zur Verfügung stünde. Beides ist nicht der Fall. Also sollte man weniger Zeit damit verbringen, Dinge zu verbieten und die Moralkeule zu schwingen. Wenn schon Engagement, dann für die Palliativmedizin und den Zugang dazu.

Ich gestehe, ich habs getan und mir so einen supersüssen Handschmeichler bestellt; bei Orange. Bekommen habe ich das Ding nach knapp zwei Wochen Wartezeit. Wer jetzt denkt, noch so eine Mainstream-Tussi, der darf sich freuen: Orange hat nämlich vergessen, die SIM-Card ins Päket zu stecken. D.h. es geht nix, nicht mal die integrierte Musikbox. Sie seien informiert, dass dies bei einigen Bestellungen passiert sei, es würde allerdings eine Woche dauern, bis es die fehlende Karte bis zu mir schaffen würde …

Dass es ein bisschen schwierig war, das Iphone marktgerecht einzuführen, haben wir ja jetzt alle verstanden. Aber dass Päcklipacken so schwierig ist wusste ich nicht. Noch mehr irritiert mich, dass die SIM-Karte eine Woche benötigt, um nachzureisen. Technik ist vielleicht nicht gerade mein Schwerpunkt, aber bisher dachte ich, die Dinger passen in ein normales Kuvert via A-Post. Das braucht einen Tag, oder?

Ich suche übrigens medizinische Programme dafür, hat jemand Erfahrung damit?

Zensur

Angeblich findet in westlichen Demokratien ja keine Zensur statt und so. Ein Fall, der auch in der Schweiz diskutiert wurde und auf den mich strappato wieder aufmerksam gemacht hat, zeigt, dass das ein Märchen ist. 

Der Artikel in der Süddeutschen (s. Link) fasst die ganze Geschichte gut zusammen. Erschreckend ist, dass es nicht nur eine Fachzeitschrift war, die einfach so einen Artikel auf Druck von Anzeigenkunden aus dem Heft kippt, sondern gleich zwei.

Es ist ein Skandal, der uns alle in der Praxis anspornen sollte, kritisch mit Arzneimittelverordnungen umzugehen. Vor allem wirft er aber ein merkwürdiges Licht auf den Thieme-Verlag, aus dem ja viele unserer pseudowissenschaftlichen Comichefte kommen, gegen teure Bezahlung versteht sich.

Die FMH führt jedes Jahr Befragungen der Assistenten zu ihren Weiterbildungsstätten durch. Dabei kann man zu verschiedenen wichtigen Bereichen der Weiterbildung Noten vergeben. Diese werden dann im Internet veröffentlicht, ausser die bewertete Klinik möchte das nicht (weil das Ergebnis so schlecht war).

Das ist eine gute Sache. Aber so richtig helfen einem die Bewertungen nicht weiter, weil man ihnen vieles, was man für Bewerbungen eigentlich wissen will, nicht entnehmen kann. Darüber leiden die Ergebnisse auch am Phänomen der zentralen Tendenz.

Ein paar Kollegen und ich haben deshalb neulich nach ein paar Gläsern (oder Fässern?) Wein beschlossen, eine Seite mit subjektiven Erfahrungen von Assistenten verschiedener Kliniken zu starten. Zunächst in diesem Blog und je nach Beteiligung später unter einer eigenen Adresse.

Die Bewertungen sind rein subjektiv und betreffen nur die Qualitäten der jeweiligen Klinik als Arbeitgeber von Assistenzärzten.

Cave teutonem

Habe die letzten Wochen mal wieder am Bewerbungskarussel gedreht. War recht amüsant. Zum einen, weil man in der derzeitigen Situation nach wie vor selbstbewusst auftreten kann (Jobs wie Sand am Meer), zum anderen, weil es nach wie vor Chefs gibt, die noch auf einem anderen Stern leben. Vor allem die deutschen Chefär… (man verzeihe mir diesen billigen zidanesken Kopfstoss) sind teilweise wirklich der Hammer. Darauf möchte auch die Überschrift dieses Posts in meinem bescheidenen Vulgärlatein hinaus: Man sollte sich bei Abteilungen oder Kliniken mit deutschen Chefs am besten gar nicht bewerben.

Viele scheinen die menschenverachtenden deutschen Verhältnisse in die Schweizer Spitäler importieren zu wollen. Weiterbildung? Natürlich in der Freizeit. Überstunden? Fallen nicht an, wenn man gut arbeitet. Umgangston? Kasernenhofjargon. Wertschätzung der Mitarbeiter? Gehen Sie doch nach drüben, wenn es Ihnen nicht passt. Teamwork? Hä? Führungskompetenz? Fehlanzeige.

Neben den schon gemachten Erfahrungen während meiner Assistentenjahre, kamen nun noch nette Erlebnisse bei den Bewerbungsgesprächn dazu. Einer wollte mir eine 80% Stelle (Salär) zu 100% anbieten (Arbeitszeit), aber die Masche kannte ich schon. Einer war besonders innovativ und hatte eine Woche „Probearbeiten“ im Sinn. Wir sind uns nicht einig geworden, weil ich partout nicht verstehen wollte, wozu denn die übliche vertragliche Probezeit dann noch gut sein sollte. Bei den Gehältern hat der eine oder andere auch gemeint tricksen zu können. Eigentlich gibt es für Assistenten in der Schweiz kantonale Lohntabellen, in denen man nach Berufserfahrung (Weiterbildungsjahre) eingestuft wir. Aber einige dachten wohl deutsch und blond = blöd und willig. Sie haben sich getäuscht. Es hat richtig Spass gemacht abzusagen.

Es gab aber auch sehr angenehme Bewerbungsgespräche, insbesondere mit Schweizern, bei denen man freudig zur Kenntnis nahm, dass Gesprächsführung durch aus eine Tugend ist. Interessant war auch, dass mich keiner mehr nach meinem Kinderwunsch gefragt hat und die meisten einer Teilzeitstelle gegenüber sehr aufgeschlossen waren.

Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen für alle, die sich in der Schweiz bewerben:

1. Deutsche Chefs meiden.

2. Nicht in der Schweiz des Geldes wegen arbeiten (lohnt sich für Assistenzärzte nicht).

3. Trotzdem vor dem Bewerbungsgespräch die kantonalen Lohntabellen studieren.

4. Gezielt nach der Weiterbildung fragen (Stunden pro Woche, Weiterbildungsurlaub etc.).

5. Dienstmodell erfragen.

6. Nach Gespräch mit Chef/OA um Führung durch das Haus durch einen Assistenten bitten. Da erfährt man dann all das was die Hauspropaganda verschwiegen hat.

7. So bewerben, dass man Optionen hat und sich für das beste Angebot entscheiden kann.

8. In der Probezeit kündigen, wenn es Mist ist. Eine neue Stelle ist schnell gefunden.

9. Nicht vergessen: Die Stellensituation ist so, dass man selbstbewusst auftreten kann.

10. Viel Erfolg!

Ein hoher Anspruch ist die Forderung nach stetiger Weiterbildung und lebenslangem Lernen. Find ich gut. Neugierig war ich schon immer und die Medizin besteht ja mehr aus Fragen als aus Antworten. Es müsste mir also leicht fallen, mich stetig weiterzubilden. Dachte ich.

Das Problem liegt im Detail. Bücher gibts inzwischen zu jedem Orchideenthema, eines bunter als das andere. Aber viele dieser Bände sind eigentlich schon veraltet, wenn sie erscheinen bzw. werden es bald danach sein (die Halbwertszeit medizinischer Informationen beträgt angeblich ca. 2.5 Jahre – wer misst das eigentlich wie?). Also greift man zu Fachblättern, davon gibts ja inzwischen auch für jeden Geschmack das passende. Bloss, wenn ich wirklich meine Neugier befriedigen wollte, wäre ich arm. Medizinische Fachzeitschriften sind dermassen teuer, dass auch bei problemorientierter Auswahl ein Assistentengehalt dafür leider nicht reicht. Da fragt man sich, warum das so sein muss. Das meiste, was da drin steht bezieht sich auf Studien, die mit öffentlichen Geldern oder Ressourcen der Industrie (inzwischen wohl häufiger) finanziert wurde. Dafür habe ich schon mit Steuern und den Medikamentenpreisen gelöhnt. Warum muss ich dafür nochmal bezahlen?

Einfacher wäre es, man stellt die Blättchen ins Internet, dann hat man kaum Produktionskosten und aktueller wären sie auch. Mich wundert besonders, dass die internationalen Top-Journals das nicht machen – ich meine kostenlos. Schliesslich ist die publizierte Information ein öffentliches Gut, auf das jeder Zugriff haben sollte.

Bis dahin ist es vermutlich meine naive Sicht der Dinge. Ans Unseriöse grenzt aber dieses unsägliche Webegeschmiere.  Wie soll ich bitte, ein Fachjournal ernst nehmen, wenn jede dritte Seite Werbung von Pharmafirmen ist? In Zeiten, in denen die meisten Studien zu neuen Medikamenten von eben diesen Firmen finanziert sind, wäre es doch wichtig, dass in den Journals gerade diese Studien und die damit verbundenen Therapieregimes kritisch diskutiert werden. Es widerspricht aber jeder Lebenserfahrung, dass eine Zeitschrift unabhängig ist, wenn jede dritte Seite aus Werbung derer besteht, die kritisiert werden sollen. Was bleibt ist der begründete Verdacht, dass die eine odere andere anerkannte Therapie sich auf dem miefigen Nährboden solcher Strukturen zu unrecht etablieren konnte.

Inzwischen lese ich (aus Notwehr) die offiziellen Organe der verschiedenen Fachgesellschaften nur noch selten. Meine theoretische Weiterbildung hat dadurch einen gewissen Nihilismus bekommen, besteht sie doch überwiegend aus dem Studium des Arznei Telegramms. Leider erscheint es nicht so häufig, wie es meine Neugier erwartet, aber es ist frei von Werbung und die Autoren haben eine erfrischende Skepsis.

Das strahlt

Man soll nicht pauschalisieren, aber manchmal frage ich mich schon, ob Radiologen selektionsbedingt einfach so sind oder ob die Strahlung, das funzelige Neonlicht der Schirme, an die sie ihre Bilder pappen, oder diese muffigen Kellerräume die eine oder andere Persönlichkeitsveränderung hervorrufen.

In so ziemlich allen radiologischen Abteilungen, die ich in D und CH kennengelernt habe (nachts darf man als Notfall- oder Dienstärztin der MTA meist das Händchen halten, weil der Radiologe lieber zu Hause bleibt) wird beim CT-Thorax automatisch das Abdomen mitgefahren (und vice versa). Sozusagen „zur Sicherheit“, für den Fall, dass die grenzdebile Asssistentin nach der Frage LE noch eine zum Bauchnabel des Patienten hat. Nach der generellen Inflation des CT in den letzten Jahren fragt man sich ja schon länger nach den strahlungsmedizinischen Folgen. Aber wenn die sogar alle doppelt untersucht werden …

Bizarr ist auch während Wochenenden und Nachtdiensten die Häufung der Empfehlung statt einem Sono, doch ein CT-Abdomen zumachen – ich meine Empfehlung radiologischerseits. Klar CTs haben eine nette Auflösung, das KM macht alles schön scharf und es bewegt sich auch nix. Aber mal ehrlich, ein Sono ist grundsätzlich eleganter, keine Strahlenbelastung, kein Risiko durch das KM. Dumm bloss, dass der Radiologe dafür (in der Schweiz) zum Patienten, sprich in die Klinik kommen muss – und das gerade an dem Wochenende an dem die geschiedene Ehefrau die Kinder vorbeigebracht hat. Das CT grillt der 28jährigen Patientin zwar die Eierstöcke, aber es gefährdet nicht das Sorgerecht, denn es kommt per DSL und Papi kann schnell die Playstation mit dem heimischen Bildschirm eintauschen.

Und dann ist da noch die Geschichte vom Radiologen, der am Wochenende und nachts immer mehr als 45 Minuten brauchte, bis er sich endlich telefonisch zur Befunddurchgabe meldete. – Ein DSL-Anschluss war ihm schlicht zu teuer, drum mussten die Bilder per ISDN zu ihm nach Hause überspielt werden. Ob das in D oder CH war sage ich jetzt mal nicht.

Die Schweizer und ihr Land muss man einfach mögen. Neulich gab es eine besondere Interpunktion, als ich einen chirurgischen Kollegen am Telefon hatte. Es ging um einen Patienten mit einer akuten GIT-Blutung (warum ich neben dem Gastroenterologen auch den Chirurgen anrufen musste ist eine andere Geschichte). Er fragte zusammenhangslos dahin, wie man das eben mit Notfallassistenten so macht (vielleicht habe ich ja die Sozialanamnese vergessen). Nachdem wir uns mehrmals über die Vitalzeichen (stabil) und die Wünsche des Patienten unterhalten hatten, fragte er ob der Patient denn schockiert sei … ich muss gestehen ich habe mich zunächst über den Smalltalk gewundert und ca. 3 Minuten mit ihm weiter parliert, bis ich gemerkt habe was er meint. Zu meiner Entlastung muss gesagt werden, dass ich ihm zuvor mehrmals über die stabilen Vitazeichen einsch. Puls und Blutdruck berichtet hatte.

In Zeiten, in denen Broschüren wie das „Ärztehasserbuch“ Konjunktur haben und Menschen mit Halsschmerzen während der Grippesaison tatsächlich auf dem Notfall vorstellig werden, fragt man sich, wofür unsere Medizin eigentlich taugt, wem sie nützt und was sie kann.

Neue Scholastik? 

Nach fast sieben Jahren täglichen Doktorspielen beginnt man sich zu fragen, ob die moderne Medizin nicht masslos überschätzt wird, von beiden Seiten, von Doktor wie Patient. Für die historisch Interessierten: Manches erinnert an die Scholastik. Das Grundübel scheint der Anspruch zu sein, für alles eine Lösung haben zu wollen. Krankheit und Tod sind schliesslich Bestandteile des Lebens, daran kann auch der Doktor nichts ändern. Wenn ich aber wegen Bauchschmerzen zum Arzt gehe, erwarte ich, dass er jedes Lebensrisiko ausschliesst. Dass er mir garantiert, dass kein Schlumpf in meinen Därmen sitzt und an ihnen nagt, dass da kein Tumor ist, kein Darmverschluss, kein faulender Appendix. Das Problem ist nur, ohne kräftig Strahlung mittels entsprechender radiologischer Technik bei jedem quersitzenden Furz kann er das gar nicht – und selbst dann bleibt ein Restrisiko. Das beste was er kann, ist eine stufenweise Abschätzung der Wahrscheinlichkeit der differentialdiagnostischen Möglichkeiten, was dann zu weiterer Diagnostik führt oder eben nicht.

Das Lebensrisiko bleibt

Rein statistisch entstehen dabei Risiken und es werden Dinge übersehen. Nicht weil der Doktor schlampig ist, sondern weil das im Leben immer so ist. Niemand kann ausschliessen, dass ihm in Kurven der Gegenverkehr entgegen kommt, der Urlaubsflieger abstürzt oder ein Meteorit auf den Kopf fällt. Nur der Doktor, der soll garantieren, dass man keinen Tumor hat, wenn die schlechten Ernährungsgewohnheiten oder die Germanysnexttopmodelanorexie die Gedärme wimmern lassen.

Therapeutische Euphemismen

Letztlich sind wir mit schuld, dass das so ist. EBM hin oder her, die Lehrmeinung tut nach wie vor so, als müsste man nach jeder grösseren Studie wieder der neuen Sau, die durchs Dorf getrieben wird, hinterher rennen, um den Patienten eine gute Medizin zu bieten. Wie sehr wie uns dabei verzetteln zeigt sich immer dann, wenn Jahre später, meist auf Umwegen, Negativstudien zu wichtigen Themen veröffentlicht werden. Die Rolle der Pharmfirmen ist dabei ein eigenes Thema.

Europäischer Schamanismus

Vielleicht wäre es hilfreich, zu überlegen, was die Medizin, so wie wir sie kennen, nachweislich leisten kann: Notfall- und Akutsituationen können wir recht gut behandeln, überlegte Antibiotikatherapie funktioniert auch ganz gut, ebenso wie Analgesie bei akuten Schmerzen. Der Rest ist mit Verlaub die europäische Form des Schamanismus.
Damit will ich nicht sagen, dass wir auf den Schamanismus verzichten können, schliesslich ist jede Form der Symptomlinderung eine ethische Pflicht, egal wie sie zustande kommt. Aber wir sollten kritischer mit unserem (Nicht)Wissen in diesen Bereichen umgehen. Beispiele? Gern: Antibiotika bei saisonalen Bronchitiden, Sortis bei jeder Fettstoffwechselstörung, ACC bei Bronchitis, Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen, sogenannte „atypische“ Neuroleptika bei Schizophrenie, Östrogene in der Menopause, Mammographiescreening, Colon-Ca-Screening, Antibiotikatherapie bei HWI bei Katheterträgern usw. usf.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich einen interessanten Perspektivenwechsel an mir entdeckt habe, der mit der Flucht in die Schweiz zusammenhängt:

Scheindemokratie?

Man fühlt sich wieder als freier Bürger. Und man fragt sich wie man über Jahre als angeblich aufgeklärter und mit einer rudimentären Rumpfbildung ausgestatteter Eierkopf, auf die deutsche Scheindemokratie hereinfallen konnte. Wie habe ich mich aufgeregt über Luxemburg, die Schweiz, Liechtenstein (der Bart dieses Themas ist so lang wie der Reformstau in D). Diese Schurkenstaaten, die angeblich unseren Sozialstaat zugrunde richten, weil sie mit niedrigen Steuern unsere Firmen weglocken …

Der Staat als gieriger Krake

Später, um Jahre der Freiberuflichkeit (in D!) und des schweizer Exils reifer, ging einem plötzlich das eine oder andere Auge auf. Wir verpassen uns in D gegenseitig eine Hirnwäsche, die dafür sorgt, dass jeder brav mehr als die Hälfte dessen, was er mit seiner täglichen Arbeit erwirtschaftet, beim Staat abliefert. Wobei dieser „Staat“ zu einer Krake geworden ist, einer Krake, die sich verselbständigt hat und schon lang keine Institution des Bürgers mehr ist.

Steuerwettbewerb

Ich erinnere mich noch genau, wie ich fast von der Strasse abgekommen wäre, als ich eines morgens eine DRS-Meldung hörte, die Steuern seien in den Kantonen X, Y und Z gesenkt worden, die Kantone A, B und C würden in einem Jahr folgen … ?
Steuersenkungen? Steuerwettbewerb? – Ach so, bloss für „die Reichen“ natürlich, reflexte mein deutsches Hühnerhirn sofort.
Leute, das war keine Ente, das läuft hier tatsächlich so. Mal abgesehen davon, dass niedrige Steuern eine Wohltat sind, sorgt der Wettbewerb unter den Kantonen dafür, dass der Staat tatsächlich spart. Und weil er spart, hat es auch nicht für jedes Problem ein Gesetz oder eine Behörde, die es verwaltet.

„sozialdarwinistische“ Verhältnisse?

Nach deutscher Logik müssten in der Schweiz deshalb „sozialdarwinistische“ Verhältnisse herrschen. Kein Sozialstaat, der allen die Bäuche füllt, nur das Gesetz des Stärkeren. – Das die Schweiz (noch) einer der opulentesten Sozialstaaten ist, dürfte sich jedoch bis über die nördliche Grenze herumgesprochen haben. Es geht sogar noch weiter: Ich zahle hier prozentual deutlich weniger Steuern und Sozialbeiträge, aber ich werde im Vergleich zu D mehr dafür bekommen, wenn ich es mal brauche.
Nach deutscher Denke ist das ein interessanter Widerspruch, an dem der teutonische Geist auch tüchtig knabbert, wenn er es nicht verleugnet.

Der Staat erstickt seine Bürger

Die Erklärung ist natürlich banal und historisch in vielen vergangenen Kulturen nachzuzeichnen. Wenn der Staat seinen Bürger ausbeutet, überkontrolliert, für alles eine Lösung bieten will, erstickt er schliesslich selbst. Es ist wie mit der bekannten Kuh, die man nicht schlachten sollte, wenn man sie melken will. Der Bürger in D und in vielen anderen EU-Staaten ist schon längst Schlachtvieh und er hält dabei das Messer für den Melkschemel …